1. Mai 2020

Kundgebungen und Demonstrationen in Zeiten von Corona

Arbeiterkundgebungen und kämpferische Reden von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern gehören für mich zum 1. Mai – dem „Kampftag der Arbeiterklasse“ – seit ich denken kann. Die Coronakrise und die mit ihr einhergehenden Veranstaltungsverbote und Versammlungseinschränkungen lassen uns heute einen ganz anderen 1. Mai erleben. Auch unter dem Eindruck des schweren Verlaufs der Epidemie in Italien haben wir in Bayern und Deutschland das öffentliche Leben schlagartig und massiv heruntergefahren – „Flatten the curve“ lautete die letztlich erfolgreiche Strategie. Gleichzeitig haben wir wichtige Freiheitsrechte – von der Freizügigkeit bis zur Versammlungs- und Berufsfreiheit – beschnitten oder ganz ausgesetzt.

Dieser Zustand muss nun ebenso überlegt wie konsequent beendet werden. Denn wo Einschränkungen von Freiheit und Grundrechten nicht mehr verhältnismäßig sind, wird ihre Rückgabe schlicht rechtlich und moralisch zur Pflicht. Dies gilt für mich ganz besonders für die Versammlungsfreiheit. Die auf Druck von uns Landtags-Grünen vollzogenen Lockerungen bei der Genehmigung von Kundgebungen und Demonstrationen waren richtig. Falsch war die festgelegte maximale Teilnehmerzahl von 50 Personen. Mir sind die Bilder vom Sonntagabend sehr präsent, als 2.000 Menschen in Tel Aviv gegen den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu demonstrierten: trotz Covid-19, mit Abstand. Demonstrationen und öffentliche politische Meinungsäußerungen sind auch und gerade in Zeiten von Corona, in Zeiten eines restriktiven Staates, wichtig und müssen allen Menschen ermöglicht werden.

Als Grüner habe ich ein positives Menschenbild. Ich sehe meine Mitbürgerinnen und Mitbürger als verantwortlich handelnde, rücksichtsvolle Menschen, die in der Coronakrise eigenmotiviert Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Ansteckungsgefahren für sich und andere meiden. Wir alle haben in den letzten Wochen auch dazugelernt. Es ist der Zeitpunkt, uns die Verantwortung für uns selbst und unsere Mitmenschen in stärkerem Maß wieder zurückzugeben. Corona wird uns noch eine Weile erhalten bleiben – Monate, vielleicht Jahre. Deshalb ist es wichtig, dass wir einüben, mit dem Virus zu leben und dabei auch unsere grundgesetzlich garantieren Freiheitsrechte selbstverständlich wahrzunehmen. Der heutige 1. Mai ohne Arbeiterkundgebung – er muss die Ausnahme bleiben.