9. September 2009

Anwendung des aktuellen Stands von Wissenschaft und Technik bei der Beurteilung der bayerischen Atomkraftwerke

Schriftliche Anfrage de Abgeordneten Ludwig Hartmann, Bündnis 90/Die Grünen, vom 06.08.2009, mit Antworten des Staatsministeriums für Umwelt und Gesundheit vom 09.09.2009 (Antworten sind kursiv dargestellt)

Anfang Juni 2009 hat sich der Bundesumweltminister mit den fünf Bundesländern, in denen noch Atomkraftwerke betrieben werden, auf den Umgang mit den neuen „Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke“ verständigt. Der in einem mehrjährigen Prozess niedergelegte aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik wurde jedoch auf Grund des Widerstands der unionsgeführten Bundesländer nicht offiziell durch eine Veröffentlichung im Bundesanzeiger in Kraft gesetzt.
Stattdessen haben sich der Bund und die fünf zuständigen Landesminister in einer am 4. Juni 2009 geschlossenen Vereinbarung darauf verständigt, sowohl den alten als auch den neu entwickelten Sicherheitsmaßstab bis zum 31.10.2010 parallel anzuwenden. Welcher Maßstab jeweils zur Anwendung kommt, soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Abteilungsleiterebene im Konsens entscheiden.
Es gibt erhebliche Zweifel, ob dieses Vorgehen mit den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem so genannten „Kalkar-Urteil“ von 1989 vereinbar ist.
Für die Mehrkosten von möglichen Doppelprüfungen durch dieses Verfahren sollen angeblich die AKW-Betreiber aufkommen. Diese sind dazu aber in keiner Weise verpflichtet. Da bisher nicht vorgesehen ist, dass die erforderlichen Mehrkosten aus den Länder- oder Bundeshaushalten finanziert werden, würden damit die Betreiber selbst entscheiden, ob der neueste Stand von Sicherheit und Technik als Maßstab angewendet wird oder nicht.

In diesem Zusammenhang frage ich die Staatsregierung:

Vorbemerkung:
Gemäß der Genehmigungsvorschrift des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG muss die „nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden“ gewährleistet sein. Der Begriff „Stand von Wissenschaft und Technik“ ist grammatikalisch mit der Erforderlichkeit der Schadensvorsorge verknüpft. Er dient daher dazu, die Risiken zu ermitteln, gegen die Vorsorge zu treffen ist, und die Eignung der Vorsorgemaßnahmen zu bewerten.
Erforderlich ist, dass unter Einbeziehung auch der Erkenntnisse der Wissenschaft davon ausgegangen werden kann, dass die vorgesehenen Maßnahmen und Einrichtungen geeignet sind, Schäden nach dem Maßstab praktischer Vernunft auszuschließen. 

Übereinstimmend damit besagt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.08.1978 – Kalkar: Es muss diejenige Vorsorgegegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlichgehalten wird. Lässt sie sich technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt.
Im Übrigen geht es in diesem Beschluss lediglich um die Frage, ob die Formulierung der Genehmigungsvoraussetzung „die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Schadensvorsorge“ bestimmt genug ist. Das Bundesverfassungsgericht stellt dazu fest, dass die gesetzliche Fixierung bestimmter Standards die technische Weiterentwicklung und die ihr angemessene Sicherung der Grundrechte eher hemmen würde. Von Regelwerken ist nicht die Rede. Es wäre auch völlig unvertretbar, neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technik in der aufsichtlichen Praxis erst dann zu berücksichtigen, wenn sie in einem neuen kerntechnischen Regelwerk fixiert sind. Liegen neue Erkenntnisse vor, die die Schadensvorsorge in Frage stellen, wird die Aufsicht darauf bestehen, dass der Betreiber das Problem unabhängig von bestehenden Regelwerken so schnell wie möglich löst, oder aber die Einstellung des Betriebs anordnen.
Die in Auftrag gegebenen neuen „Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke“ geben nach eigenem Bekunden des BMU „den Stand von Wissenschaft und Technik“ wieder und fixieren damit einen bestimmten Standard. Da sie keine Aussage zu dem treffen, was erforderlich ist und ob die Schadensvorsorge nicht auch auf andere Weise gewährleistet werden kann, sind sie ungeeignet, die Genehmigungsvoraussetzung des § 7 Abs. 2 S. 3 AtG zu konkretisieren. 

1.a) Teilt die Staatsregierung die Auffassung, dass Maßstab für die sicherheitstechnische Bewertung der im Land betriebenen Kernkraftwerke der jeweils aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik ist?
b) Ist die Staatsregierung der Auffassung, dass die Sicherheit der bayerischen Atomkraftwerke Isar 1 und 2, Grafenrheinfeld und Gundremmingen B und C dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik  bei der erforderlichen Schadensvorsorge entspricht?
Zu 1. a) und b):
Die Staatsregierung ist der Auffassung, dass in den bayerischen Kernkraftwerken die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Schadensvorsorge getroffen ist, d. h. dass Schäden nach dem Maßstab praktischer Vernunft ausgeschlossen sind. Wäre sie hiervon nicht überzeugt, würde sie einschreiten. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkung verwiesen.

2.a) Welchen Stellenwert haben die vom Bundesverfassungsgericht in seinem so genannten Kalkar-Urteil (BVerfG 49,89) gezogenen und nachfolgend zitierten Schlussfolgerungen für die Tätigkeit der bayerischen  Atomaufsichtsbehörde?
„Mit der Bezugnahme auch auf den Stand der Wissenschaft übt der Gesetzgeber einen noch stärkeren Zwang dahin aus, dass die rechtliche Regelung mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt hält. Es muss diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. … Die in die Zukunft hin offene Fassung des § 7 Abs 2 Nr 3 AtomG dient einem dynamischen Grundrechtsschutz. Sie hilft, den Schutzzweck des § 1 Nr 2 AtomG jeweils bestmöglich zu verwirklichen. Die gesetzliche Fixierung eines bestimmten Sicherheitsstandards durch die Aufstellung starrer Regeln würde demgegenüber, wenn sie sich überhaupt bewerkstelligen ließe, die technische Weiterentwicklung wie die ihr jeweils angemessene Sicherung der Grundrechte eher hemmen als fördern. Sie wäre ein Rückschritt auf Kosten der Sicherheit. Es hieße das Gebot der Bestimmtheit missverstehen, wollte man den Gesetzgeber gerade dazu verpflichten.“
b) Inwieweit werden diese Grundsätze von der Atomaufsichtsbehörde angewendet und dementsprechend die Prüfungsmaßstäbe auf dem neuesten Stand gehalten?
Zu 2. a) und b):
In der Aufsicht werden immer die neuesten Erkenntnisse zur Schadensvorsorge berücksichtigt, unabhängig davon, ob sie schon in einem Regelwerk Niederschlag gefunden haben. 

3.a) Für welche Anlagen liegen der Bayerischen Staatsregierung Sicherheitsanalysen vor, aus denen sich ergibt, dass die Sicherheit der im Land betriebenen Kernkraftwerke den neuesten wissenschaftlich technischen Standards entspricht?
b) Für welche Anlagen liegen der Bayerischen Staatsregierung Sicherheitsanalysen vor, aus denen sich ergibt, dass die Sicherheit der im Land betriebenen Kernkraftwerke vom neuesten wissenschaftlich technischen Standard abweicht?
Zu 3. a) und b): Die Sicherheit der Kernkraftwerke ist Gegenstand der täglichen Aufsicht.
„Sicherheitsanalysen“, die alle zehn Jahre von den Betreibern durchgeführt werden, sind hochkomplexe Gesamtbetrachtungen, die über mehrere Jahre laufen. Sie dienen in erster Linie der Identifizierung von Verbesserungspotenzial bei der Restrisikominimierung. Bei der Überprüfung der in den bayerischen Anlagen durchgeführten „Sicherheitsanalysen“ wurden keine Abweichungen von den Sicherheitsanforderungen festgestellt.

4. a) Ist die Staatsregierung der Auffassung, dass der Stand von Wissenschaft und Technik von den BMI-Sicherheitskriterien aus dem Jahr 1978, den Störfall-Leitlinien von 1983 und den RSK-Leitlinien für Druckwasserreaktoren von 1983 auch heute noch zutreffend beschrieben wird?
b) Werden  von der Atomaufsichtsbehörde bei der sicherheitstechnischen Bewertung bayerischer Atomkraftwerke auch die von der GRS veröffentlichten „Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke, Revision D“, berücksichtigt?
Zu 4. a) und b):
Gegenstand der BMI-Sicherheitskriterien, der Störfallleitlinien und der RSK-Leitlinien für Druckwasser-Reaktoren ist nicht der „Stand von Wissenschaft und Technik“, sondern die vom Atomgesetz geforderte Schadensvorsorge. Soweit hierzu neuere Erkenntnisse vorliegen, werden sie von der Aufsicht berücksichtigt. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkung verwiesen.

5. Inwieweit sind die von den neuen „Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke“ und vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.4.2008 vorgesehenen Vorsorgemaßnahmen nach dem Stand von Wissenschaft und Technik gegen auslegungsüberschreitende Ereignisse in den fünf bayerischen Atomkraftwerken umfassend genehmigt und verwirklicht?
Zu 5.:
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.04.2008 sieht keine „Vorsorgemaßnahmen nach dem Stand von Wissenschaft und Technik gegen auslegungsüberschreitende Ereignisse“ vor. Entgegen der bisherigen Systematik fasst es unter dem Betriff der Schadensvorsorge zwei Bereiche von Maßnahmen zusammen: zum einen die Maßnahmen, die erforderlich sind, um alle möglicherweise auftretenden Störfälle zu beherrschen und damit Schäden nach dem Maßstab praktischer Vernunft auszuschließen; zum anderen die Maßnahmen, die zusätzlich ergriffen werden, um Auswirkungen von eigentlich nicht denkbaren Ereignissen zu begrenzen (Restrisikominimierung).
Die in den bayerischen Kernkraftwerken vorgesehenen Maßnahmen der Restrisikominimierung entsprechen dem weltweit Üblichen und sind selbstverständlich genehmigt.

6. Wie beurteilt die Staatsregierung vor dem Hintergrund der zitierten Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts den Widerspruch, dass sie auf der einen Seite am 4.6.2009 zusammen mit anderen Bundesländern eine Vereinbarung mit der Atomaufsichtsbehörde des Bundes getroffen hat, in der festgehalten ist, dass das übergeordnete Regelwerk veraltet ist, andererseits aber weiterhin daran festzuhalten gedenkt, dieses veraltete Regelwerk bei der Bewertung der Sicherheit in den hiesigen Atomkraftwerken maßgeblich anzuwenden?
Zu 6.:
In der Vereinbarung vom 04.06.2009 ist nicht festgehalten, dass das übergeordnete Regelwerk veraltet ist. Wie bereits in der Vorbemerkung festgestellt, werden in der laufenden Aufsicht und auch bei Genehmigungsverfahren ohnehin alle neuen Erkenntnisse zur Gewährleistung der Schadensvorsorge berücksichtigt, auch wenn sie noch nicht Eingang in ein Regelwerk gefunden haben. Unabhängig davon hält es die Staatsregierung für wünschenswert, das vorhandene Regelwerk zu systematisieren und zu vervollständigen.
Ein solches Projekt (KTA 2000) war vom Kerntechnischen Ausschuss bereits in Angriff genommen worden und stand kurz vor seinem Abschluss, als das Bundesumweltministerium es im Dezember 2003 kurzerhand für „endgültig gescheitert“ erklärte, um unter Federführung der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit und mit erheblichem finanziellen Aufwand ein neues Projekt aufzulegen. Die von Ländern, Sachverständigen und Betreibern vorgebrachten Einwände zu Grundansatz, Systematik und Praxistauglichkeit wurden konstant ignoriert.

7.a) Welche Verfahren schlägt die Staatsregierung für die probeweise Anwendung der genannten Vereinbarung vor?
Zu 7. a):
Das Kerntechnische Regelwerk (KTR) wird in Bayern bei einem Beladeplan und einer Sicherheitsüberprüfung einer Erprobung unterworfen.

b) Nach welchen Kriterien plant die Staatsregierung zu entscheiden, ob das veraltete kerntechnische Regelwerk oder die neu entwickelten „Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke“ Maßstab für die behördliche Entscheidung sein werden?
Zu 7. b):
Siehe Antwort zu Frage 6.

8.a) Wird die Staatsregierung auf die probeweise Anwendung des neuen Regelwerks verzichten, wenn die Betreiber sich weigern, die Kosten zu übernehmen?
b) Wird die Staatsregierung mögliche Mehrkosten durch die probeweise Anwendung des neuen Regelwerks übernehmen, wenn die Betreiber sich weigern die Kosten zu übernehmen?
Zu 8. a) und b):
Die Betreiber haben sich bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen
.

Um Beantwortung innerhalb der von der Geschäftsordnung festgelegten Frist und um Drucklegung wird gebeten.

Anbei habe ich Ihnen meine Schriftliche Anfrage und die Antwort der Staatsregierung als pdf-Datei im Drucksachenlayout des Bayerischen Landtags hinterlegt.

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