Mehr Europa wagen
Kürzlich hörte ich eine Geschichte aus dem Jahr 1950. Da lockten am deutsch-französischen Grenzübergang in St. Germanshof Studierende die deutschen und französischen Zöllner in ihre Zollhäuser, sperrten sie ein, bauten die Schlagbäume ab und verbrannten sie. Sie kamen aus Deutschland, Frankreich, Italien und England. Und sie wollten ein Zeichen für ein freies und friedliches Europa setzen, fünf Jahre nach dem Ende des Krieges und noch vor der Gründung der Montanunion, der Vorläuferorganisation der heutigen EU.
Ich weiß nicht, wie damals die Öffentlichkeit auf die Aktion reagierte, auf diese Grenzverletzung im wahrsten Sinne des Wortes. Aus heutiger Sicht war es eine visionäre Tat. Die Studierenden von damals hatten früher als die meisten ihrer Zeitgenossen verstanden, dass Freiheit und Frieden zusammenhängen, dass von Kooperation über die Grenzen hinweg alle profitieren. Was damals galt, gilt heute potenziert. Unser Wohlstand hängt davon ab, dass wir Handel mit anderen Ländern treiben. Wir profitieren kulturell vom Austausch über die Grenzen hinweg, wir betrachten die Anrainer als Nachbarn, nicht als Feinde, die uns Böses wollen und die es in Schranken zu weisen gilt. Dass in Europa seit vielen Jahrzehnten Frieden herrscht, haben wir der Einsicht unserer Eltern und Großeltern zu verdanken, dass sich am Ende die Dinge besser gemeinsam regeln lassen als gegeneinander.
Ich bin für dieses Erbe sehr dankbar. Heute feiere ich meinen 40. Geburtstag – ich durfte 40 Jahre in Frieden, Freiheit und Demokratie leben. Lange Zeit habe ich es als selbstverständlich angesehen, vielleicht zu selbstverständlich, dass es ein gemeinsames Europa gibt und dass die Zusammenarbeit immer enger wurde. Manchmal war das ein zäher Prozess, aber so ist das eben, wenn man einen Konsens erzielen will. Das dauert, aber am Ende können alle mit dem Ergebnis leben. Als Grüner weiß ich, wovon ich spreche. Seit einigen Jahren wird aber immer klarer, dass dieses wunderbare Erbe nicht einfach so da ist. Es bleibt nur, wenn wir es verteidigen und immer wieder neu erschaffen. Europa ist immer nur so gut, wie die Regierungen und die Menschen, die es tragen. Und einige – Regierungen wie Menschen – haben sich in den letzten Jahren auf den Weg gemacht, das gemeinsame Europa abzubauen und stattdessen wieder ein Europa der Nationalstaaten zu errichten. Ihnen sind die offenen Binnengrenzen ein Dorn im Auge, sie wollen wieder Schlagbäume und Grenzen errichten und die Freiheit einschränken.
Auch die CSU ist vom nationalen Virus befallen. Da wird mit unseligen Begriffen wie einer „Achse“ Berlin/München-Wien-Rom hantiert, es gibt einen Schulterschluss mit Demokratie- und Europafeinden wie Viktor Orbán oder der österreichischen FPÖ. Der Ministerpräsident schwadroniert vom Ende des Multilateralismus, die falschen und unsinnigen Grenzkontrollen werden ausgeweitet. Es wird gestritten und diskutiert, ob die Bayerische Polizei Grenzkontrollen durchführen darf oder ob dies allein die Aufgabe der Bundespolizei ist. Eine absurde Debatte, denn ich will in einem Europa ohne Schlagbäume und Grenzkontrollen leben. Die Debatte darüber, wer diese europafeindlichen Kontrollen durchführen soll, lenkt von der eigentlich nötigen Diskussion ab: Nämlich wie wir Europa weiterentwickeln wollen. Mahnende und pro-europäische Stimmen, die es in der CSU gibt, hört man nur ganz leise.
Dabei ist es zweifellos so, dass wir Europa brauchen und Europa uns braucht. Die Probleme und Herausforderungen der Welt sind für die europäischen Nationalstaaten längst zu groß – von Klimaüberhitzung und fairem Welthandel über Migration bis hin zur Bekämpfung von Armut und Hunger – da hilft nur eine gemeinsame europäische Stimme, kein vielstimmiger und disharmonischer Chor aus den einzelnen Ländern. Denn schließlich ist auch die internationale Lage alles andere als einfach. Demokratieverächter wie Putin versuchen Europa zu schwächen, der irrlichternde Trump schwächt die transatlantischen Beziehungen und China versucht, die Lage zu seinem Vorteil zu nutzen.
Meine Antwort darauf heißt: Ein starkes Europa ist wichtiger denn je. Und Stärke heißt Gemeinsamkeit. Je enger wir zusammenarbeiten, umso stärker ist Europa. Je mehr jeder nur noch an sich denkt, umso schwächer werden wir. Auch in diesem Sinne geht es bei der Landtagswahl am 14. Oktober um eine Richtungsentscheidung: Ist Bayern künftig ein Motor für das gemeinsame Europa, oder reiht es sich in die Phalanx der Europaskeptiker und -feinde ein? Ich stehe für ein starkes und gemeinsames Europa. Ich sehe es persönlich als meine Pflicht an, das Europa, in dem ich seit 40 Jahren leben darf, als das zu erhalten, was es ist: als Garant für Frieden und Freiheit. Das vereinte Europa ist das größte Geschenk, das uns unsere Eltern je machen konnten. Es ist unser Europa. Und es ist das, was wir draus machen. Ich will mehr Europa wagen.