„Mit dem Virus leben“: Damit es nach dem zweiten Lockdown keinen dritten oder gar vierten Lockdown gibt
Die Zahl der Covid-19 Erkrankten steigt dramatisch, ab Montag, den 02.11.2020 steht ein landesweiter Teil-Lockdown an. Am 30.10.2020 gab es im Bayerischen Landtag eine Corona-Sondersitzung mit einer Regierungserklärung von Ministerpräsident Söder.
Wir begrüßen die Abstimmung über den künftigen Corona-Kurs Bayerns im Landtag. Auch wenn die Abstimmung rechtlich ist die Abstimmung nicht bindend, weil das Bundesinfektionsschutzgesetz den Landesregierungen zwar die Möglichkeit für eigene Corona-Verordnungen gibt, darin aber keine
Gesetzgebungskompetenzen für die einzelnen Landtage vorsieht.
Dennoch dürfte eine solche Abstimmung dann den Debatten im
Landesparlament ein Stück mehr Gewicht geben. Unter anderem wurde auch über den Grünen Dringlichkeitsantrag „Gemeinsam durch die Corona-Krise“ beraten.
Die beschlossenen Maßnahmen zermürben und sind anstrengend für uns alle. Deshalb habe ich Verständnis dafür, wenn die Menschen in unserem Land sich über die Maßnahmen ärgern. Bei jeder Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie ist die Abwägung schwierig. Künftige Maßnahmen müssen besser erklärt und wissenschaftlich unterlegt werden.
Hier meine Erwiderung auf die Regierungserklärung von Ministerpräsident Markus Söder:
Wir stehen hier und heute vor einer Situation, die niemand wollte. Alle Fraktionen im Hohen Haus haben in den letzten Monaten Eines klar zum Ausdruck gebracht: Es darf keinen neuen Lock-Down geben, der ganze Bereiche und Branchen betrifft. Und jetzt kommt genau das, was keiner wollte.
Corona überwindet die Mauern und die Gräben der Wohlstandsgesellschaften, denn es kann jeden treffen. Und es trifft uns gerade alle – diejenigen, die nicht gesundheitlich betroffen sind, sind von den Auswirkungen der Pandemie betroffen.
Über 18.600 Neuinfektionen in Deutschland in den letzten 24 Stunden macht deutlich: der Sommer war nur eine kurze Verschnaufpause. Eine Zeit der Hoffnungen. Diese Hoffnungen haben sich für die kommenden Monate zerschlagen.
Wieder werden wir unsere Freunde nur am Telefon sprechen oder per Webtool sehen können und nicht beim abendlichen Treffen in der Dreizimmerwohnung. Wieder werden wir unseren Kindern erklären müssen, dass sie nachmittags nicht zum Spielen ihre Freundinnen und Freunde besuchen sollen. Erst recht nicht die, die in der anderen Kindergartengruppe sind, auch wenn’s die besten Freunde sind. Wieder werden wir beim Lieblingsitaliener vorbeiradeln, der leider geschlossen hat – und hoffen, dass er nicht für immer schließen muss.
Das zermürbt, das laugt aus, das ist anstrengend für uns alle. Deshalb habe ich Verständnis dafür, wenn die Menschen in unserem Land sich über die Maßnahmen ärgern. Bei jeder Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie ist die Abwägung schwierig: Auch eine andere Entscheidung wäre denkbar. Das treibt mich um, das treibt uns alle in der Fraktion um. Und wohl auch die meisten von Ihnen hier im Hohen Haus.
Welcher Weg ist der richtige – dass uns diese Frage so beschäftigt, zeigt doch, wie wichtig die Debatte hier im Parlament ist. Und dass diese weitreichenden Entscheidungen nicht leichtfertig und nicht im Alleingang und nicht ohne ernsthafte Debatte gefällt werden dürfen.
Es freut uns, dass es nun Konsens ist, dass wir Schulen und Kinderbetreuung offenhalten – im Interesse der Kinder und ihrer Bildungschancen. Das haben wir bereits als größten Fehler des ersten Lockdowns kritisiert. Wir sind froh, dass sich dieser Fehler nicht wiederholt und tragen diese Prioritätensetzung zu 100% mit.
Eins ist aber auch klar: Wenn wir die Schulen und Kitas offenhalten wollen, dann braucht es einen Strauß an Maßnahmen, um die Kontakte in anderen Bereichen drastisch zu reduzieren. Sonst haben wir keine Chance, die Infektionszahlen nach unten zu bekommen und darauf kommt es jetzt an!
Das heißt, das öffentliche Leben und das gesellschaftliche Leben müssen wir wieder stark einschränken. Die Gastronomie und die Freizeiteinrichtungen müssen wieder schließen. Theater, Konzertsäle und Kinos werden wieder geschlossen – bevor sie überhaupt richtig öffnen durften.
Clubs bleiben weiterhin geschlossen. Unsere Großeltern werden wieder weniger Besuch bekommen und unsere Enkel werden die Oma und den Opa weniger sehen. Der Sport wird hart eingeschränkt. Reisen in den Herbstferien fallen flach und damit wird auch die Tourismusbranche erneut hart getroffen. Das große Shopping-Center – das hat aber weiterhin geöffnet.
Das ist keine Gleichbehandlung. Die einen trifft es härter als die anderen. Und da stellen die Menschen berechtigt die Frage:
Warum wir und nicht die?
Warum dürfen wir nicht endlich wieder auf der Bühne stehen?
Warum dürfen wir unser Lokal nicht offenlassen?
Warum dürfen wir keine Gäste haben?
Warum dürfen wir nicht tanzen gehen?
Und das obwohl es Hygienekonzepte gibt und wissenschaftliche Studien, wie Veranstaltungen sicher durchgeführt werden können.
Ich verstehe den Frust, die Enttäuschung und die Hoffnungslosigkeit, die viele Menschen hier spüren. Zum Beispiel die Kultur- und Kreativschaffenden, für die der erste Lockdown noch nicht einmal zu Ende war.
Einmal mehr wird klar: Es ist es ein sehr schmaler Grat, zwischen einem fürsorgenden und einem bevormundenden Staat. Verbote und Verordnungen alleine werden die Pandemie nicht stoppen. Maßnahmen werden nur dann akzeptiert, wenn sie nachvollziehbar sind, transparent diskutiert und erklärt werden. Es ist wie in der Mathematik: Wir verstehen das Ergebnis besser, wenn wir den Rechenweg kennen.
Wir müssen uns bewusst machen: wenn 75% des Infektionsgeschehens nicht zugeordnet werden können, dann haben wir einen Punkt erreicht, wo selbst ausgefeilte Hygienekonzepte nicht mehr ihre Wirkung entfalten können. Die vielen guten Hygienekonzepte der Gaststätten, der Schwimmbäder, der Freizeitparks, der Kletterhallen, der Kultureinrichtungen und Vieler mehr. Sie sind und waren nicht umsonst, sondern werden, sobald wir das Infektionsgeschehen wieder besser nachvollziehen können, gebraucht.
Es geht jetzt darum, die Infektionswelle erneut zu brechen. Sonst ist unsere Intensivmedizin schneller am Limit als wir denken. Das können und wollen wir nicht verantworten. Denn vermeidbare Todesfälle sind nicht zu rechtfertigen.
Lasst uns noch einmal gemeinsam stark sein! Wir haben es im Frühjahr geschafft, die Welle abzuflachen und werden es gemeinsam auch ein zweites Mal schaffen. Davon bin ich fest überzeugt!
Es ist unsere politische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Auswirkungen dieser Pandemie die Gräben unserer Wohlstandsgesellschaft nicht weiter vertiefen. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, alle berechtigten Interessen – und diese sind so vielfältig wie unsere Gesellschaft – in einen Ausgleich zu bringen. Damit die Pandemie nicht immer mehr zu einer gesellschaftlichen Zerreißprobe wird. Wir müssen den Menschen und Betrieben aus den Bereichen Kultur, Gastronomie, Kreativwirtschaft, Tourismus und allen anderen betroffenen Dienstleistern Brücken in die Zukunft bauen, damit wir ihre Leistung für unser Land nicht dauerhaft verlieren.
Dazu gehört auch ein klares Zeichen an die Kulturschaffenden, dass Kulturbudgets auf kommunaler, Landes- und Bundesebene auch bei knappen Kassen in Zukunft nicht gekürzt werden. Ich sehe da auch die Staatsregierung in der Verantwortung, den Kommunen unter die Arme zu greifen.
Die Härten, die wir jetzt abfedern – das Geld, was wir jetzt ausgeben müssen, das werden Lasten der Zukunft sein. Eine intakte Solidargemeinschaft bedeutet für uns deshalb auch: Starke Schultern müssen künftig beim Schuldenabbau auch mehr tragen als schwache!
Die bundesweit einheitlich beschlossenen Maßnahmen, die jetzt nötig sind, die tragen wir mit.
Was wir aber nicht mittragen, ist die Arroganz, mit der die Staatsregierung in den letzten Monaten meint, alles richtig gemacht zu haben. Es gilt auch hier: „Solange man selbst redet, erfährt man nichts.“ Kommunikation muss in beide Richtungen funktionieren. Auf den Rat von Expertinnen zu hören, hilft komplexe Herausforderungen zu meistern.
Die Arroganz muss aufhören. Offensichtliche Probleme müssen Sie sich endlich eingestehen und sich ihnen stellen. Denn es sind Probleme, die wir dringend lösen müssen, sonst hängen wir in einem andauernden Lockdown-Pendel fest. Ein Lockdown-Pendel, das immer wieder zurückschlägt, bedeutet Unsicherheit: Unsicherheit für die Menschen, Unsicherheit für unsere Wirtschaft, Unsicherheit für unser gesellschaftliches Leben.
Ein Lockdown-Pendel gefährdet Existenzen, verursacht Insolvenzen und treibt Menschen in Einsamkeit und Depression.
Ein Lockdown für ganze Branchen kann nur die Ultima Ratio sein – das letzte Mittel. Da waren wir uns im Frühjahr ja bereits einig. Doch aus dieser Einigkeit müssen jetzt endlich die richtigen Schlüsse gezogen werden. Ich möchte das an drei Beispiel deutlich machen was ich meine, damit wir nach Weihnachten nicht wieder vor der gleichen Situation stehen wie heute:
1. Eine Strategie für die Corona-Hotspots
Das Beispiel Berchtesgaden hat gezeigt, dass Sie bis heute keine Corona- Strategie für Hotspots haben. Dort haben sie einen lokalen Lockdown verhängt. 2.500 Urlauber reisten ab, und niemand wurde auf das Corona-Virus getestet. Niemand weiß, wie viele und wer von den Touristen das Virus in seine Heimat mitgenommen hat. Das war ein massives Versagen Ihrer Regierung.
Man darf Fehler machen, gerade in einer Ausnahmesituation. Dass der gleiche Fehler, den man selbst noch in Ischgl harsch kritisiert hat, noch mal gemacht wird, ist völlig unverständlich.
2. Die Nachverfolgbarkeit bei hohen Infektionszahlen
Sie können derzeit bei mindestens 75% der Fälle nicht sagen, wo das Infektionsgeschehen stattfindet. Jetzt werden Gaststätten und Bars geschlossen. Ob das nun richtig oder falsch ist, lässt sich gar nicht mit Daten belegen, da wir keine Informationsgrundlage haben. Von der Regierung erwarten wir, dass sie hier deutlich mehr investiert, um zu erfahren, wie und wo sich die Infektionen am stärksten verbreiten.
Denn nur mit diesem Wissen kann es einen planbaren und weitsichtigen Weg durch die Pandemie geben. Nicht-Wissen führt zu falschen oder zumindest fragwürdigen Entscheidungen. Zielgerichtete Maßnahmen zum Eindämmen der Pandemie sind so kaum möglich.
Es ist an der Zeit, endlich die Gesundheitsämter mit dem nötigen Personal und den nötigen technischen Geräten auszustatten, damit wir Infektions-Cluster schnell aufspüren können.
3. Eine Teststrategie über Schnelltests
Den Stillstand des öffentlichen Lebens dauerhaft staatlich zu finanzieren – das geht nicht und das darf nicht unsere Strategie sein. Wir fangen jetzt Verluste auf, um später nicht vor den Scherben dieser Pandemie zu stehen. Dass Menschen wieder ihrer Arbeit nachgehen können, das ist unser Ziel!
Unser Ziel ist auch, dass alte Menschen ohne Angst ihre Angehörigen treffen können. Und ein weiteres Ziel: Schulen und Kitas offen zu halten, kann über den gezielten Einsatz von Schnelltests deutlich leichter werden.
Weil diese drei Bereiche nicht funktionieren, weiß die Staatsregierung auch nach 8 Monaten Pandemie noch nicht, wo die Infektions-Cluster liegen. Und wenn Sie da jetzt Ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, dann stehen wir nach Weihnachten und Silvester wieder da, wo wir heute stehen.
Wenn Sie Herr Ministerpräsident Söder wie letzte Woche dann davon sprechen, dass wir in dieser Pandemie kein „logistisches“ Problem haben, sondern nur ein „politisch-mentales“, dann ist das gefährlich. Wenn ihre Gesundheitsministerin Huml noch Anfang Oktober sagt, die Gesundheitsämter in Bayern seien bei der Nachverfolgung gut aufgestellt, da gäbe es keinen Handlungsbedarf, dann ist das gefährlich.
Denn diese Einstellung offenbart keinen Lernwillen. Und ohne Lernwille kann es keine positive Lernkurve geben. Wir schlittern in den nächsten Lockdown – den dann wieder niemand wollte.
Also statten Sie endlich die Gesundheitsämter angemessen aus. Veranlassen Sie gezielte wissenschaftliche Studien zur Untersuchung der Verbreitung des CoronaVirus – und nicht nur an Kultureinrichtungen, auch in Einkaufszentren.
Arbeiten Sie mit Medizin-Statistiker zusammen und schaffen Sie die Datengrundlage für zielgerichtete Maßnahmen. Die Rasenmäher-Methode, die wir jetzt wieder anwenden müssen: Das wäre nicht nötig gewesen, wenn Sie in diesem Bereich in den letzten acht Monaten stärker tätig gewesen wären.
Ich möchte mich zum Schluss ausdrücklich noch einmal an die Menschen richten. An die Bürgerinnen und Bürger, die uns heute hier zuhören und zusehen. Manche hoffnungsvoll oder erwartungsvoll, manche skeptisch oder auch schon resigniert.
Ich möchte Ihnen Mut machen und Ihnen ausdrücklich sagen, es ist nicht ihre Schuld. Sie trifft nicht die Schuld an der Situation, in der wir uns jetzt befinden. Es ist ein Versäumnis der Regierung, die ihr Vertrauen mit teils nicht nachvollziehbaren Maßnahmen verspielt hat. Und andere Maßnahmen versäumt hat, richtig zu erklären. Es ist ein Versäumnis der Regierung, die die letzten Monate nicht genutzt hat, um sich auf die zweite Welle vorzubereiten.
Aber auch eine Botschaft dieses Tages ist: Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie kommt es auf Sie an! Es kommt auf uns alle an! Wir müssen alle mit Einsicht und Umsicht im Alltag das Infektionsgeschehen drücken. Und bitte nicht erst am Montag damit anfangen, sondern bitte bereits jetzt.
Ich glaube an Sie, ich glaube an uns, ich weiß, dass es uns gelingen wird, gemeinsam die Pandemie zu besiegen. Es liegt an uns allen, an uns, den Menschen in Bayern!
Und ich glaube an Solidarität und Nachbarschaftshilfe gerade in schwierigen Zeiten! Denn genau das haben so viele von Ihnen im Frühjahr vorgelebt! Ich glaube nicht, dass wir es nötig haben, unsere Bürgerinnen und Bürger dazu aufzufordern, das Fehlverhalten ihrer Nachbarn der Polizei zu melden – wie Sie, Herr Ministerpräsident, es gestern getan haben.
Holen Sie bitte das nach, was über die letzten Monate verpasst wurde! Die Kontakt-Nachverfolgung stärken, mehr Personal in den Gesundheitsämtern aufbauen, die Datenlage der Gesundheitsämter verbessern, Cluster-Nachverfolgung nutzen: Nur so können wir es schaffen, wirklich „mit dem Virus zu leben“.